Der schlafende Mann
Um morgens in relativer Ruhe die halbe Stunde Eisenbahnfahrt nach Düsseldorf verbringen zu können, stieg ich stets in das Abteil direkt hinter der Lok, das meist aus unerfindlichen Gründen gähnend leer war. Dies kam meinem Wunsch entgegen morgens vor der Schule noch ein wenig allein zu sein, um zum Nachdenken und zur Reflexion zu kommen. Mitunter packte ich sogar meinen Zeichenblock aus und übte Zeichnen.
Eines Morgens blieb ich jedoch in meinem Abteil nicht allein, die Schiebetür öffnete sich und ein sehr gepflegt aussehender Mann mit Vollbart setzte sich mir gegenüber ans Fenster. Ich fürchtete schon, er würde mich ansprechen und ich müsste mich mit ihm unterhalten. Aber nichts dergleichen geschah. Außer dass der Mann sehr bald seine Augen schloss und entschlummerte.
Ich begann den schlafenden Mann zu beobachten. Er sah überraschend gut und ebenmäßig aus, er faszinierte mich. Ich nahm all meinen Mut zusammen, schnappte mir meinen Zeichenblock und begann diesen schlafenden gutaussehenden Mann zu zeichnen, zu porträtieren. Natürlich hätte er jederzeit aufwachen und mich bei meinem unerlaubten Tun überraschen können, was er nicht tat. Ich konnte ihn in aller Ausgiebigkeit mehrmals zeichnen. Was für ein Kitzel, was für ein Abenteuer. In Düsseldorf wachte der Mann auf, blickte verschlafen um sich. Ich nahm meine Tasche und meinen Zeichenblock, grüßte kurz und stieg aus.