Die Katze in der roten Baskenmütze

Die zerbrochene Reißschiene

Mein Vater konstruierte und zeichnetegelegentlich zu Hause Baupläne. Er hatte sein Reißbrett im Wohnzimmer in Ermangelung eines eigenen Arbeitsraumes aufgebaut. Mein Vater legte trotz allem großen Wert auf ungestörtes Arbeiten. Niemand durfte seinen Bauplänen zu nahe kommen und jeder in der Familie hielt sich daran, schon aus eigenem Interesse, denn er konnte ziemlich ausrasten, wenn es doch jemand versuchte. Nur mein kleiner Muzel wußte nicht, was ihm blühen konnte, er schlug unbekümmert seine Kapriolen, turnte und sprang auf alles, was erhöht war und von dem aus er nach Katzenart einen guten Überblick hatte. Dabei landete er plötzlich auch auf den Bauplänen meines Vaters. Die Pfoten meines Katers, nie ganz sauber, hatten häßliche Abdrücke auf dem weißen Bogen hinterlassen. Mein Vater schäumte vor Wut. Er nahm seine Reißschiene, ein langes T-förmiges Lineal und drosch auf den Kater ein. Er versuchte es zumindest, aber es mißlang. Inzwischen hatte der
sich schon in blinder Panik aus dem Staub gemacht und den Raum verlassen. Muzel hatte nichts abbekommen, wohl aber die Reißschiene. Die war bei der Aktion zu Bruch gegangen. Die Abdrücke der Katzenpfoten ließen sich auch
durch intensives Bemühen nicht wegradieren, mein Vater mußte den gesamten Plan noch einmal neu zeichnen.
Von dem Tag an blieb der Raum verschlossen, wenn mein Vater arbeitete. Gelegentlich neigte, wie schon beschrieben, mein Vater dazu im Übermaß dem Alkohol zuzusprechen. Es gab Phasen in seinem Leben, in denen er, der nicht viel trinken mußte, um betrunken zu sein, nicht wußte, wann er genug hatte. Ich erfuhr dies, glaube ich, zum ersten Mal mit
vier oder fünf Jahren, als er eines Abends viel zu spät und sturzbetrunken nach Hause kam. Die Reaktion meiner Mutter kam prompt. Wütend, nach einem kurzen verbalen Gewitter, nahm sie ihre und meine Matratze samt Bettzeug und deponierte beides auf dem Boden unseres Esszimmers.
Es sollte Protest und Strafe in einem für meinen Vater sein. Außerdem wollte sie sich und mich, die ich bei meinen Eltern im Schlafzimmer schlief, nicht die ganze Nacht den Alkoholdünsten meines Vaters aussetzen. Es war das erste Mal von so einigen Nächten, die ich auf diese Weise verbrachte. Dies erste Mal fand ich noch spannend, auf jeden
Fall eine andere neue Art, die Nacht zu verbringen. Im Dunklen sah ich Muzel I. über unser Vertiko geistern. Es gruselte mich schon, aber da meine Mutter bei mir war, hielt sich meine Furcht in Grenzen. Vor Müdigkeit fielen mir schließlich die Augen zu. In der Eifel war es dann wohl mal wieder so weit. Der innere Druck, der sich bei meinem äußerst sensiblen Vater aufgebaut hatte, entlud sich in einem Übermaß an Bierkonsum. Dies geschah auf einem Betriebsfest, das er mit
seinen Kollegen feierte. Spät abends brachten ihn einige dieser Kollegen mit dem Auto nach Hause. Ich wurde geweckt von einem lautstarken Gehupe vor dem Haus. Auch diese Arbeitskollegen schienen nicht mehr ganz nüchtern zu sein.
Mein Vater, augenscheinlich der Betrunkenste in der Runde, versuchte aus dem Auto zu steigen, was ihm nur unter größter Mühe gelang. Als er sich dann endlich außerhalb des Wagens befand, dabei aber mit den Händen an der offenen Wagentür abstützte, schloß einer der Männer im Autoinneren die Tür, ohne auf die Hände meines Vaters zu achten. Schnell wurde die Tür von innen wieder geöffnet – zu spät, einige Finger seiner linken Hand waren gequetscht und bluteten ziemlich stark. Ich sah meine, zunächst abwartend in der Haustür stehende, Mutter eilig zum Wagen laufen, um meinen Vater in Empfang nehmen. Der schien jedoch so betrunken zu sein, daß er noch gar nicht mitbekommen hatte, was da mit ihm passiert war, er schien jedenfalls keine Schmerzen zu haben. Während meine Mutter ihm die verletzte Hand versorgte, sauste eine Schimpf- und Vorwurfskanonade auf ihn nieder. Auch davon wird er in seinem stark angetrunkenen Zustand nicht viel mitbekommen haben. Es schockte mich ziemlich, meinen Vater in diesem desolaten Zustand gesehen zu haben. Mein bis dahin weitestgehend heiles Bild von ihm hatte erste Risse bekommen.

Jahrgang 1948, werde ich auf dem Gut Groß-Below in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach der Flucht aus der DDR, lande ich mit meinem Vater, einem Hochbauingenieur, meiner Mutter und deren Mutter über mehrere Stationen, in Rheinland-Pfalz und der Eifel, schließlich im Ruhrgebiet...

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