Storch im Salat

Gewitter im Klo

Der Sommer 1959 war ein außerordentlich schöner, heißer aber gleichzeitig auch sehr schwüler Sommer.
Es passierte viel in diesen paar Monaten. Zum Beispiel besuchte uns wieder Mal meine Schwester Christa zusammen mit Schwager Dietrich und fünfjähriger Nichte Birgit. Wie immer, wenn Christa anwesend war, wurde es turbulent. Alles drehte sich hauptsächlich um sie, alle anderen, vor allem Birgit und ich wurden zu Statisten degradiert.
Die kleine Familie lebte seinerzeit noch immer in Ost-Berlin bei Schwiegervater Bruno, seines Zeichens Buchhalter, und Schwiegermutter Emmi in einer relativ winzigen Wohnung am Prenzelberg. Dietrich hatte schon seine Ausbildung als Ingenieur beendet und pendelte jeden Tag von Ostberlin nach Westberlin zu seiner Arbeit bei Osram.
Um überhaupt in den Westen zu uns zu kommen, bedurfte es jedes Mal einer höchst umständlichen behördlichen Genehmigung der DDR.
Für ein paar Wochen konnten sie der Enge der einschlossenen Stadt Berlin entkommen. Sie wollten etwas erleben, etwas von der Welt sehen. Die Welt bedeutete in diesem Fall das nahe gelegene Holland.
Wir buchten eine Busfahrt zum holländischen Seebad Scheveningen.
Wir, das waren meine Schwester, mein Schwager, meine Nichte Birgit, mein Vater und ich. Meine Mutter blieb auch diesmal, wie so oft, zu Hause bei meiner Großmutter. Ich konnte kaum erwarten, zum ersten Mal in meinem Leben an die Nordsee zu kommen.
Natürlich wurde mir auch diesmal übel im Bus und ich kämpfte längere Zeit mit dem Übergeben. Irgendwann aber war die Landschaft, die an den Fenstern vorbei flog, interessanter und ich vergaß meinen Kotzreiz völlig.
Schneller als ich vermutet hatte, war die Fahrt vorbei und wir waren in Scheveningen. Schon allein die Stadt war beeindruckend, war ganz anders als die mir bekannten deutschen Städte. Alle Häuser sahen so sauber und weiß aus, nicht so schmutzig und verschwiemelt wie im Ruhrgebiet. Auch gab es hier keine Gardinen an den Fenstern, wie bei uns in Deutschland. Jeder konnte in die Wohnungen hinter den Scheiben sehen. Die Straßen innerhalb der Stadt waren nicht asphaltiert, sondern mit kleinen roten flachen Backsteinen belegt. Alles war anders und fremd. In der Nähe des Strandes, der breiten Strandpromenade, waren die Häuser noch größer, noch beeindruckender, weißer, schlossähnlicher und mit Stuck behaftet.
Nachdem wir uns in einem Gartenlokal ausgeruht hatten, ging es endlich an den heiß ersehnten Strand. Der war genauso beeindruckend breit wie die Promenade davor. Zum Glück war nicht Ebbe und wir beiden Kinder konnten ein bisschen im Wasser waten. Ich wollte endlich im Sand buddeln, genug davon war ja da. Die Erwachsenen suchten sich schließlich einen Platz am Strand und ich konnte mich ausruhen, alles auf mich wirken lassen. Mitgebrachte Brote und hart gekochte Eier wurden ausgepackt und verteilt. Als ich mein Ei abgepellt hatte, meinte Birgit Sandfliegen spielen zu müssen. Der Sand flog genau in meine Richtung und auf mein Ei. Ich wurde wütend, aber es brachte nichts, selbst nachdem Christa mein Ei abgewischt hatte, war es unbrauchbar. Ich versuchte, es trotzdem zu essen, aber es knirschte grauenhaft zwischen den Zähnen. Ich spuckte und war wieder mal kurz davor mich zu übergeben.
Am Spätnachmittag ging es wieder zurück nach Hause über Amsterdam. Hier wurde kurz Rast gemacht. Alle, sich im Bus Befindenden strömten aus, um sich mit Käse, Butter und Schokolade einzudecken. Nicht alles, was da zusammengekauft wurde, wurde übrigens später an der Grenze verzollt, es wurde geschmuggelt. Auch meine Schwester meinte, hundert Gramm Käse kaufen zu müssen. Sie ging mit Birgit und mir zu einem Geschäft, vor dem Holzschuhe, wahrscheinlich die des Besitzers, abgestellt waren. Ich vermutete, daß auch wir unsere Schuhe auszuziehen hatten, aber meine Schwester machte keine Anstalten dies zu tun und ich wagte nicht, sie danach zu fragen, also gingen wir mit unseren Schuhen an den Füßen in den Laden hinein. Er befand sich ein paar Stufen unterhalb der Straße, im Souterrain eines alten, sehr schmalen hohen Hauses und am Rand einer Gracht. Das Geschäft war so klein, daß es mit uns dreien und dem Besitzer mehr als überfüllt war, aber es war sehr gemütlich und wirkte eher wie ein normaler Wohnraum. Angesichts der vor der Tür parkenden Holzschuhe, hatte ich mich gefragt, was der Mann wohl an seinen Füßen tragen würde? Er bediente uns zu meiner Überraschung barfuss. Ich fand dies zwar äußerst seltsam, aber vielleicht war es hier in Holland so Sitte.
Ziemlich spät am Abend waren wir wieder zurück in Essen. Ich sackte so todmüde ins Bett, dass ich nicht in der Lage war .auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, mich gegen das Schlafengehen zu wehren.
Das schöne strahlende Wetter wurde noch schöner, beziehungsweise heißer und ausgesprochen unangenehm schwül. Bei einem Spaziergang im Stadtpark rutschte meine fünfjährige Nichte mitsamt ihrer Klamotten aus und landete im Stadtparkteich. Meine Schwester zog ihr schnell ihr Kleidchen aus und Birgit mußte, was ich als oberpeinlich empfand, mit uns, nur mit ihrer Unterhose bekleidet nach Hause gehen. Ich versuchte sie auf dem gesamten Rückweg, der nicht besonders kurz war, so gut es ging zu ignorieren.
Es wurde von Tag zu Tag schwüler, so daß jeder, bis auf mich, das unvermeidliche Gewitter kaum erwarten konnte. Ich wollte zwar auch eine Abkühlung, jedoch auf gar keinen Fall ein Gewitter, denn ich hatte vor dem Krachen und Blitzen eine panische Angst. Hätte es irgendein kleines Loch gegeben, so wäre ich während eines Gewitters hineingekrochen. Bei jedem Blitz vermutete ich, meine letzte Sekunde sei gekommen und der darauf folgende Donner gab mir den Rest.
Meine Angst nützte nichts, das Gewitter kam und es tobte wie noch nie. Die Blitze waren grell und lang und das Krachen des Donners war unglaublich. Ich rannte blind vor Angst so schnell ich konnte ins Bad, das keine Fenster hatte, um diese schrecklichen Blitze nicht mehr sehen zu müssen. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, war, dass die Akustik des Donners durch den Belüftungsschacht um ein Vielfaches verstärkt wurde, denn dieser verband acht Badezimmer miteinander. Es war grauenhaft, ich sah zwar keine Blitze, hörte aber den schrecklichsten Donner, der sich denken läßt.
Nachdem das Gewitter vorbei und ich trotz allem lebend davon gekommen war, schlich ich mich zum Rest der Familie zurück. Die berichteten mir, daß der Blitz ein paar Mal in den, vom Wohnzimmer sichtbaren Funkturm, eingeschlagen war. Ich war froh, dies nicht mitbekommen zu haben. Meine Erlebnisse im Klo waren schlimm genug gewesen.

Jahrgang 1948, werde ich auf dem Gut Groß-Below in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach der Flucht aus der DDR, lande ich mit meinem Vater, einem Hochbauingenieur, meiner Mutter und deren Mutter über mehrere Stationen, in Rheinland-Pfalz und der Eifel, schließlich im Ruhrgebiet...

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