Storch im Salat

Maulsperre

Eines Tages spürte ich während des Mittagessens einen scharfen Schmerz, nahe meinem rechtem Ohr im Kiefergelenk. Es tat höllisch weh und dazu war es mir unmöglich den Mund zu schließen und das durchzukauen, was ich mir da vorhin in den Mund geschoben hatte. War der Bissen zu groß gewesen, hatte ich den Mund zu weit aufgerissen? Es war mir schleierhaft. Jetzt saß ich da und es dauerte eine ganze Weile, bis sich das Gelenk wieder bewegen ließ. In der Zwischenzeit bekam ich von meiner ahnungslosen Mutter zu hören, warum ich da so blöd mit geöffnetem Mund herumsäße und nicht kauen wolle. Wahrscheinlich witterte sie einen erneuten Anfall meiner, in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Appetitlosigkeit, mit der ich meine gesamte Familie schrecklich nervte. Ich konnte nicht nur nicht kauen, ich konnte selbstverständlich auch nicht sprechen. Also saß ich stumm, meiner Mutter verzweifelte Blicke zuwerfend und hatte weiterhin den Mund weit offen.
„Schluck endlich runter, was Du da im Mund hast!“ grinste meine Mutter und da ihr langsam dämmerte, dass ich nicht so konnte, wie ich wollte, setzte sie besänftigend hinzu:
„Kind was hast Du denn?“ Endlich hatte sich der Krampf gelegt und ich konnte mit schmerzverzogenem Gesicht antworten: „Ich, ich habe mir meinen Kiefer ausgerenkt“ stammelte ich den Tränen nahe. Meine Mutter grinste noch immer.
„Du hast Dir den Kiefer ausgerenkt, ja ja, klar, selbstverständlich.“
„Wirklich Mutti.“ Es brauchte geraume Zeit ihr klarzumachen, was mir passiert war. Das Ganze hatte wohl nur ein paar Minuten gedauert. Für mich jedoch eine Ewigkeit. Alle um mich herum hatten es ganz anders empfunden als ich selbst. Ich war heilfroh wieder kauen und sprechen zu können.
Von dieser relativ kurzen Attacke blieb mir wochenlang ein höchst unangenehmes Spannungsgefühl zurück, mein Kiefergelenk glaubte ich, sei noch immer nicht da, wo es hingehörte. Dieses Gefühl war dermaßen unangenehm, dass ich mir keinen anderen Rat wusste, meine Mutter zu bitten mir auf die rechte Wange eine Ohrfeige zu geben. Dies sollte mein Kiefergelenk wieder in die alte Position rücken. Meine Mutter sah mich entgeistert an, glaubte wohl, sich verhört zu haben.
„Bitte, bitte, bitte Mutti, hau mir doch eine runter!“, bettelte ich.
„Kind, das meinst Du nicht im Ernst. Ich kann Dir doch nicht einfach so eine kleben.“
„Doch, kannst Du“, antwortete ich in echter Verzweiflung.
Meine Mutter konnte sich nicht überwinden mir ohne Grund eine Ohrfeige zu verpassen und mein ausgerenkter Kiefer musste sich deshalb ohne Gewaltanwendung von außen allein kurieren.

Jahrgang 1948, werde ich auf dem Gut Groß-Below in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach der Flucht aus der DDR, lande ich mit meinem Vater, einem Hochbauingenieur, meiner Mutter und deren Mutter über mehrere Stationen, in Rheinland-Pfalz und der Eifel, schließlich im Ruhrgebiet...

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