Storch im Salat

Der Davidstern über dem Sofa

Sie hatte etwas für mich ungemein Sympathisches, sie war überhaupt kein bisschen zickig und bar jeder Eitelkeit. Sie war im Gegensatz zu mir sehr sportlich und bekam Privatunterricht im Eistanz. Diese Eistanzambitionen gingen, so ging jedenfalls das Gerücht in der Schule, auf das Konto eines übergroßen Ehrgeizes ihrer Mutter. Der Sport war keinesfalls unsere Gemeinsamkeit, es war, die Kreativität, das Zeichnen, aber vor allem das Dekorieren. Ethel wollte nach ihrer Schulzeit Dekorateurin werden.
Wir beide schwelgten in Allmachts-und Erwachsenen Phantasien. Zusammen glaubten wir, alles erreichen und auf die Beine stellen zu können. Auch notfalls gegen den Willen unserer Eltern. Ethels Mutter war nicht mit dem Berufswunsch ihrer Tochter einverstanden, wie ich erfuhr. Sie sollte statt dessen Eiskunstläuferin werden. Wir verbündeten uns also, planten sogar zusammen abzuhauen, wohin auch immer. Wir hatten auch vor, eine eigene Dekorationsfirma zu gründen. Unsere Freundschaft war in erster Linie eine Protestgemeinschaft.
Auch Ethel lud ich selbstverständlich ein, bei uns ein Wochenende zu verbringen. Dies gestaltete sich aber ein wenig komplizierter als seinerzeit bei meiner Freundin Jutta. Ethels Vater  erschien bei uns und unterhielt sich ziemlich lange und ausgiebig mit meinen Eltern, bevor er mit der Übernachtung seines einzigen Kindes bei uns zustimmte. Er erklärte sein Verhalten mit keinem Wort. Ich empfand dies alles seltsam, aber was sollte es, ich konnte es nicht ändern. Ethels Vater brachte seine Tochter und holte sie am darauffolgenden Tag am Sonntagnachmittag auch wieder ab. Was für mich zählte, war, es hatte Spaß gemacht, wieder mal eine Wochenendschwester zu haben. Dafür lohnte es sich schon, misstrauische Väter in Kauf zu nehmen.
Einige Monate später lud mich Ethel zu ihrer Geburtstagsfeier ein. Ich sagte zu, obwohl ich auch diesmal mindestens zwei mir fremde Mädchen würde ertragen müssen, die nicht so ganz mein Fall waren. Egal, ich riss mich zusammen und ging zu ihrer Feier…
Ich war zum ersten Mal in dieser Wohnung und ich richtete es so ein dass ich der erste Gast, war. Nur nicht als Letzte erscheinen, in eine schon versammelte Runde hineinplatzen. Nachdem ich Ethel gratuliert und ihr mein Geschenk überreicht hatte, zeigte mir meine Freundin einige Räume der Wohnung. Ethels Mutter, eine mir überstreng erscheinende  Person, zeigte sich nur kurz und werkelte dann weiter in der Küche herum. Im Wohnzimmer hing über dem Sofa statt des obligaten Gemäldes ein Tuch mit einem großen Stern darauf. Ich fand das sehr ungewöhnlich, unterließ es aber, meine Freundin nach der Bedeutung dieses Sterns zu fragen. Der Rest der Wohnung wies keine weiteren Besonderheiten auf, außer dass sie nicht besonders wohnlich wirkte, etwas steril.
Nachdem Ethels andere Gäste erschienen waren, gab es Kaffee und Kuchen im Kinderzimmer und anschließend ein ziemliches Gezicke unter den eingeladenen Mädchen wegen der Auswahl der Spiele. Etwas vor der Zeit verabschiedete ich mich, sagte, ich müsse nach Hause, denn ich hatte keinen rechten Spaß an diesen endlosen Zergeleien.
Später zu Hause berichtete ich dann meiner Mutter von dem seltsamen Stern über dem Sofa. Ich zeichnete ihn auf und meine Mutter meinte lakonisch, bei diesem Stern müsse es sich um den Davidstern den sogenannten Judenstern handeln. Ich war verblüfft. Was war denn ein Judenstern??? Ich wusste damals überhaupt noch nichts von Judenverfolgung, von Konzentrationslagern und Gaskammern. Ich fragte darum völlig unbefangen: “Warum hängt über dem Sofa von Ethels Eltern ein Judenstern?” Viel bekam ich nicht aus meiner Mutter heraus, außer: “Vermutlich sind es Juden.”
“Was sind Juden?”, fragte ich. “Juden sind halt ganz normale Menschen mit einer anderen Glaubensrichtung, nicht katholisch, auch nicht evangelisch, so wie wir. Aber sonst nichts Besonderes.” Mit dieser Erklärung war ich fürs erste zufrieden. Dieser ganze Religionskram spielte in meiner Beziehung zu Ethel ohnedies keine Rolle. Also, warum sollte ich mir darüber Gedanken machen? Mir war zwar aufgefallen, dass sie nicht so wie ich zum Konfirmandenunterricht musste, es in dieser Beziehung also besser hatte als ich, aber außer, dass ich sie darum ein bisschen beneidete, hatte es keine weitere Bedeutung für mich. Ich sprach sie deshalb auch nie darauf an.
Irgendwann hatte mir meine Freundin einmal erzählt, dass ihre Eltern während des Krieges in Island gelebt hätten. Dies war zwar interessant, denn ich wusste auch schon als Kind, dass es sehr viele Kriegsflüchtlinge gab, die in irgendeiner seltsamen Ecke der Welt gelandet waren. Ethels Eltern hatte es halt nach Island verschlagen und uns in eine andere Richtung. Warum sollte ich also fragen?
Ich brachte diese Tatsache erst viel, viel später mit dem Stern über dem Sofa in Verbindung.

Jahrgang 1948, werde ich auf dem Gut Groß-Below in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach der Flucht aus der DDR, lande ich mit meinem Vater, einem Hochbauingenieur, meiner Mutter und deren Mutter über mehrere Stationen, in Rheinland-Pfalz und der Eifel, schließlich im Ruhrgebiet...

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