Allgemeines,  Die Katze in der roten Baskenmütze

Der “Blinddarm” auf der Bank

Nachdem ich es geschafft hatte, mir selbst eine
kleine Katze zu besorgen, hatte ich auch Mut
mich von meiner Mutter zu einem Bauern
schicken zu lassen um für uns Milch zu holen.
Ich marschierte auftragsgemäß in die Küche des
Bauernhofes um mein Anliegen vorzutragen. Dort
lag ein junger Mann, der Sohn des Hauses auf
einer Sitzbank und ruhte sich wahrscheinlich von
der Arbeit aus. Ich wußte von meiner Mutter, daß
dieser bewußte Sohn kurz zuvor eine
Blinddarmoperation überstanden hatte. Dieser
Umstand und die Tatsache, mit dem, der dieses
Abenteuer überstanden hatte, unverhofft
konfrontiert zu sein, brachte mich derart aus dem
Konzept, daß ich mich sprachlos auf dem Absatz
und ohne Milch umdrehte, nach Hause rannte
und meiner Mutter empört berichtete, ich hätte
den „Blinddarm“ auf einer Bank liegen sehen und
er sei nicht zugedeckt gewesen. Inzwischen stand
Weihnachten vor der Tür.
In der Gegend in der wir uns befanden, gab es
den Brauch am Nikolausvorabend den heiligen
Nikolaus erscheinen zu lassen. Er ging von Haus
zu Haus, befragte die anwesenden Kinder, ob sie
artig gewesen seien und beschenkte sie schließlich
mit Süßigkeiten. Es konnte aber auch sein, daß er
einem Kind drohend die Rute zeigte, wenn es
denn im Verlauf des vergangenen Jahres durch
Unarten zu sehr aufgefallen war.
Ich saß also mit einigen Kindern zusammen im
Wohnzimmer unserer Vermieter und harrte der
Dinge, die da kommen sollten.
Bevor allerdings der Nikolaus tatsächlich erschien,
flippte plötzlich ein kleines Mädchen von etwa
vier Jahren völlig aus. Die Tränen liefen ihr
herunter, während sie entsetzt stammelte und den
gleichen Satz ständig wiederholte: “ Ich will ins
Bett, ich will ins Bett, ich will ins Bett…”
Es war schlimm, diese Angst vor einem nicht
echten Nikolaus miterleben zu müssen.
Dieses Erlebnis erinnerte mich an die
Weihnachtsfeier vor genau einem Jahr. Sie wurde
veranstaltet von der Stadt -Be und Entwässerung
in Ostberlin. Auch damals gab es einen
Weihnachtsmann, der an den Tischen, an denen
wir Kinder mit unseren Eltern saßen,
vorbeiwanderte und jedes Kind in seinen riesigen
Sack greifen ließ, um sich ein Geschenk
herauszuziehen. Als dieser Weihnachtsmann vor
mir stand, war ich vor Angst fast völlig gelähmt.
Ich starrte ihn entsetzt an und griff ohne zu sehen,
was ich tat in den Sack. Mir war völlig wurscht,
daß ich nur ein winziges Spielzeugauto erwischt
hatte, ich wollte, daß dieser Weihnachtsmann
wieder verschwand.
Ich hatte trotz allem Glück, nach der Feier wurde
jedem Kind ein größeres Geschenk überreicht
und mir meine Negerpuppe, die ich von der ersten
Sekunde an abgöttisch liebte.
Meine Eltern hatten erkannt, daß sie mir mit
Weihnachtsmännern und Nikoläusen keinen
Gefallen taten, dies keine so recht funktionierende
Form war, mich zu erziehen, also erklärten sie mir
praktischerweise Weihnachtsmänner, Nikoläuse
und der Einfachheit halber auch Osterhasen gäbe
es nicht, seien eine Erfindung der Erwachsenen.
Damit war ich diese Ängste erst einmal los, andere
hatte ich trotz allem noch genug. Meine, in
Ostberlin zurückgebliebene Schwester war
unterdessen monatelanger Repressionen seitens
der Stasi ausgesetzt.
Sie wurde zu Verhören geladen und zu unserem
Verbleib ausgequetscht.
Es muß für sie außerordentlich schwer gewesen
sein, es muß sie viel Mut gekostet haben, immer
wieder stoisch zu behaupten, sie wisse nichts von
den Fluchtabsichten ihrer Eltern und sie wisse vor
allen Dingen nichts von unserem Verbleib.
Mit der Zeit ebbte das Interesse der Stasi an
unserer Familie ab. Sie gaben es schließlich auf,
meine Schwester weiter zu befragen.
Christas unnachgiebiger Charakter, ansonsten eine
für uns gelegentlich unangenehme Eigenschaft,
hatte sich hier positiv ausgewirkt.

Jahrgang 1948, werde ich auf dem Gut Groß-Below in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach der Flucht aus der DDR, lande ich mit meinem Vater, einem Hochbauingenieur, meiner Mutter und deren Mutter über mehrere Stationen, in Rheinland-Pfalz und der Eifel, schließlich im Ruhrgebiet...

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