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Diese Kolumne ist nicht nur für die älteren Leser bestimmt, weil auch Zwanzigjährige an Gedächtnisausfällen leiden. Sie ist aber besonders erbaulich für die Großelterngeneration. Menschen über 60 müssen nicht zum Neurologen eilen, weil sie gestern die Haustür zugeschlagen und den Schlüssel im Flur haben liegen lassen. Oder wenn sie Namen und Gesichter vergessen. Oder zum Schrank gehen, um einen Schal zu holen, aber plötzlich nicht mehr wissen, weshalb sie losmarschiert sind. Weil zum Beispiel gerade das klingelnde Telefon ablenkt.

Die Neuroforschung meldet: Demenz ist real, aber ein löchriges Kurzzeitgedächtnis kein Beweis. An ihm leiden auch Junge. Und die Alten überflügeln sie beim Denken.

Josef Joffe

Denn Gedächtnisstörung hat nicht unbedingt mit Alter, gar mit Alzheimer zu tun. Hier wollen wir nicht Lebenshilfe aus der Apotheker-Rundschau oder billigen Trost liefern, sondern auf die Neurologie verweisen. Genauer: auf das Buch das Neurowissenschaftlers Daniel Levitin, Successful Aging – wie man alt wird, ohne mental zu verwelken. Die Kurzfassung hat er in der New York Times veröffentlicht.

Die zentrale Aussage lautet: “Alzheimer und Demenzsymptome sind real, doch ein versagendes Kurzzeitgedächtnis ist nicht unbedingt Zeichen des biologischen Verfalls.” Wäre es so, könnten sich Vergessliche nicht an die Namen ihrer Klassenkameraden in der Fünften oder an den ersten Kuss erinnern. Das Langzeitgedächtnis können alte Menschen mit fotografischer Präzision aktivieren.

Junge Studenten, berichtet der Professor, können genauso schusselig sein wie die ergrauten Altvorderen. Sie wandern in den falschen Hörsaal und wissen nicht, was der Prof vor zwei Minuten gesagt hat. Nur verarbeiten sie solche Ausfälle anders als die Alten. Sie sagen sich nicht: “Oh Gott, Demenz!”, sondern: “Verdammt, ich habe einfach zu viel zu tun!” Dann geloben sie, acht statt vier Stunden zu schlafen.

Dagegen erspähen Senioren alsgleich das Menetekel an der Wand. Der Neurobiologe Levitin kontert: Ab 30 schrumpfe zwar fast unmerklich das Kurzzeitgedächtnis, aber das Desaster bleibe aus, so denn keine pathologische Gehirnveränderung vorliegt. Zitat: “Selbst die Ältesten zeigen wenig oder keinen Verfall kognitiver Fähigkeiten nach 85 oder 90, wie 2018 eine Studie berichtete.”

Doch tüttelig sind so viele Grauköpfe; also muss die mentale Degeneration schuld sein … Derlei Selbstdiagnose sei überhaupt nicht zwingend, räsoniert Levitin und greift dabei zu einer Metapher jenseits der Neurowissenschaft.

Die Alten, die so viel erlebt und gespeichert haben, müssen einfach mehr Gigabytes auf ihrer biologischen Festplatte durchsuchen, was logischerweise mehr Zeit erfordert. Deshalb grübeln und zögern sie, bis sie einen Namen gefunden haben. Aber der ist nicht weg, sondern nur besser versteckt. Die Nadel ist so klein, der Heuhaufen so groß. Die Jungen müssen dagegen nur die Halme durchsuchen, die sie nicht in sieben, sondern nur zwei Jahrzenten gesammelt haben.

Was neu hinzukommt, muss sozusagen gegen die Überfüllung ankämpfen, um sich ein gut sichtbares Plätzchen zu verschaffen. Solch eine Überladung haben auch Computersimulationen menschlicher Gedächtnissysteme gemessen. Suchet und ihr werdet finden. Die Jungen sind bloß schneller am Ziel, weil ihr Weg kürzer ist.

Nun zu den noch besseren Nachrichten. Die Alten haben gerade wegen ihrer vollgespickten Festplatte einen erklecklichen Vorteil. Ihre Erfahrung befähigt sie, Muster besser zu erkennen und Verbindungen zwischen Daten herzustellen. Levitin: “Wenn Sie zum Röntgen müssen, dann lieber zu einem 70- als zu einem 30-Jährigen.” Die Älteren sehen mehr, nachdem sie Tausende von Bildern begutachtet haben. Mit ihrer Erfahrung können die Bejahrteren auch besser voraussagen, was kommen wird. Unsere Eltern hatten recht mit ihrer Warnung vor dünnem Eis und knurrenden Hunden.

An diesem Punkt winkt so mancher Alte ab: “Das haben wir doch schon immer gewusst.” Richtig, aber inzwischen bestätigt die Neurowissenschaft solche probaten Sprüche. Was aber tun, wenn man trotzdem in die Vergesslichkeitsfalle gerät? Zwei absolut unwissenschaftliche Experten liefern brillante Ratschläge.

Der eine ist der große amerikanische Komiker Groucho Marx. Als er einmal in Verlegenheit geriet, blickte der dem Gegenüber treuherzig in die Augen: “Ich vergesse nie ein Gesicht, aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme.” Probieren Sie es. Die Peinlichkeit löst sich sofort im Lachen auf.

Der zweite heißt Gerhard Schröder. Wie er es denn schaffe, stets ein paar Hundert Namen parat zu haben, etwa bei einem Parteitag? “Ich lege der Genossin liebevoll die Hand auf die Schulter und frage: Wie heißt du noch mal? – “Susi.” – “Aber das weiß ich doch, nur der Nachname ist mir gerade entfallen.” Antwortet sie indes mit “Wiedemann-Holzberger”, dann geht es umgekehrt: “Ja klar, weiß ich, aber was ist dein Vorname?” Susi nennt den bereitwillig. Wieder ein Faux pas aus der Welt.

Solche Taktiken müssen Senioren beherrschen, weil sie länger stochern müssen als Junioren. Trotzdem: Was wie Demenz anmutet, besagt die Neuroforschung, ist so oft nur der Fluch der überfüllten Festplatte. Bei aller Vergesslichkeit sei nicht der Segen zu ignorieren: die Suchmaschine im Kopf, die im Erwachsenengehirn auf 2,5 Millionen Gigabytes zurückgreifen und den erlösenden Groucho- oder Gerhard-Gambit aufrufen kann. Die Jungen sind schneller, die Alten schlauer.

Jahrgang 1948, werde ich auf dem Gut Groß-Below in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach der Flucht aus der DDR, lande ich mit meinem Vater, einem Hochbauingenieur, meiner Mutter und deren Mutter über mehrere Stationen, in Rheinland-Pfalz und der Eifel, schließlich im Ruhrgebiet...

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